Kultur Altägyptens - Ein Geschenk des Nils

Kultur Altägyptens - Ein Geschenk des Nils
Kultur Altägyptens - Ein Geschenk des Nils
 
Als Herodot in seinen »Historien« Ägypten ein »Geschenk des Nils« nannte, meinte er das geologisch: Der Nil führt bei seiner jährlichen Hochflut so viel Schlamm mit sich, dass die Ablagerungen den Boden ansteigen und ins Meer hinaus wachsen lassen. So haben sich durch den natürlichen Ablagerungsprozess und nicht etwa durch menschliche Arbeit das Delta gebildet und die Sümpfe der Flussoase in bewohnbares und bebaubares Land verwandelt. In einem genau umgekehrten Sinne griff 2400 Jahre später der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Karl August Wittfogel diesen Gedanken auf. Ägypten ist für ihn ein Geschenk des Nils, weil dessen Bändigung Arbeiten von so gewaltigem Umfang nötig machte, dass sie nur in der Form staatlicher Organisation zu koordinieren waren. Alle frühen Hochkulturen sind nach dieser Theorie »hydraulische« Kulturen, die sich auf der Grundlage staatlich koordinierter Bewässerungssysteme an Flussläufen wie Euphrat und Tigris, Indus, Hwangho und Nil gebildet haben.
 
In wieder anderer Weise verstanden Aristoteles und andere antike Theoretiker die Formel vom Geschenk des Nils. Weil der Nil durch seine jährliche Überschwemmung die Fruchtbarkeit des Bodens erneuert, gestaltet sich hier die Landwirtschaft zum Kinderspiel und lässt den Menschen reichliche Muße zum Nachdenken. Nicht das Land, sondern die Zeit erscheint hier als das eigentliche Geschenk des Nils, ebenso wie die geistige Kultur, die in der geschenkten Zeit entsteht: Wissenschaften und Künste, Religion und Philosophie. Die praktischer denkenden Ägypter waren auf ihre Weise zu einer ähnlichen Theorie gelangt. Der »Nilhymnus«, eines der klassischen Literaturwerke, die in den Schulen gelehrt und in Hunderten von Abschriften verbreitet wurden, führt fast alle zivilisatorischen Errungenschaften auf den Nil zurück. Ihm verdankt sich nach diesem Text nicht nur die Fruchtbarkeit des Bodens, sondern zum Beispiel auch das künstliche Licht, die Körperpflege und die Literatur; denn der Talg für die Lampen und Seifen wird aus dem Fett der Tiere gewonnen, die von den Pflanzen leben, die wiederum der Nil wachsen lässt, und die Literatur wird auf Papyrus geschrieben, den es ohne den Nil nicht gäbe. Die Verbindung zweier so auffallender und ans Wunderbare grenzender Erscheinungen wie die jährliche Nilschwemme und der frühe Glanz der ägyptischen Hochkultur hat die Fantasie der Menschen seit Jahrtausenden beschäftigt und lädt auch uns dazu ein, uns über die Grundlagen der ägyptischen Kultur Gedanken zu machen.
 
Herodots geologische Beobachtung ist unzweifelhaft richtig. Das vom Nil aufgeschwemmte Land war aber ohne menschliche Arbeit nicht in bebaubaren Boden zu überführen. Die Sümpfe mussten durch künstliche Entwässerung trockengelegt, die Felder durch künstliche Bewässerung kultiviert werden. Wittfogels Vorstellung hydraulischer Riesenprojekte schießt andererseits weit über das Ziel hinaus. Diese Arbeit war längst kleinräumig geleistet, als der Staat entstand. Schon gegen Ende des 6. Jahrtausends wurden Jäger und Sammler im Niltal sesshaft, und im Lauf des 5. und 4. Jahrtausends verbreiteten sich Ackerbaukulturen über das Gebiet des späteren Staats. Dieser wurde zweifellos nicht zum Zweck der Errichtung von Deichen und Kanälen, sondern zum Zweck einer zentralisierten Vorrats- und Versorgungswirtschaft gegründet, die die Menschen von den starken Schwankungen der Überschwemmungshöhe und der Ernteerträge unabhängig machen sollte. Damit bestätigt sich aber doch die grundsätzliche Einsicht, dass der Nil die Grundlage der ägyptischen Kultur bildet. Ägypten war - und ist - ein Agrarstaat, der in einem ungewöhnlichen Umfang von der Bewirtschaftung des Bodens lebt; und es ist das Phänomen der jährlichen Nilschwemme, das zur Entstehung eines nur staatlich organisierbaren Wirtschaftssystems mit der Möglichkeit gewaltiger Überschussproduktion und entsprechender Arbeitsteilung führen konnte.
 
Der Reichtum Ägyptens verdankte sich der Landwirtschaft. Diese war wesentlich ertragreicher, aber gewiss nicht müheloser als anderswo. Die Leiden des Landmanns sind ein viel behandeltes Thema der ägyptischen Literatur. Seine Mühen und Plagen bestanden aber weniger in der Arbeit als solcher als in der Höhe der Abgaben, die der Staat unnachgiebig einforderte. Der Staat, der die Arbeit organisierte und die Erträge einzog, speicherte und verteilte, lastete schwer auf dem Volk, von dem er lebte und dessen Versorgung er sicherstellte. Die ägyptischen Quellen haben das nicht beschönigt, auch wenn sie meist in propagandistischer Absicht die Versorgungsleistungen des Staates in den Vordergrund stellten und in schwärzesten Farben das Elend ausmalten, das beim Zerfall des Staates eintreten würde. Für den ägyptischen Landmann waren nur die Abgaben, nicht die Arbeit das Problem; diese konnte sogar als erwünschtes Ziel in Vorstellungen vom Leben nach dem Tod erscheinen: Man erhoffte sich ein Grundstück im »Binsengefilde«, von dessen in eigener Arbeit erwirtschafteten Erträgen man im Jenseits leben wollte. Die jenseitige Feldbestellung ist oft dargestellt.
 
Die unerwünschte Arbeit, von der man im Jenseits (durch Dienerfiguren, die »Uschebti«) wie im Diesseits befreit sein wollte, war nicht die Bestellung des Bodens, sondern die Fronarbeit, der staatliche Zugriff auf Zeit und Arbeitskraft seiner Untertanen. Der Staat besteuerte nicht nur die Bodenerträge, sondern zog die Bevölkerung auch zu Projekten wie Steinbruchexpeditionen, Bauvorhaben und Feldzügen ein. Das war keine »Sklaverei« im antiken Sinne; denn es gab in Ägypten keine Menschen zweiter Klasse, deren Rechtsfähigkeit etwa gegenüber Vollbürgern eingeschränkt gewesen wäre. Es bestanden aber große Unterschiede hinsichtlich des Umfangs, in dem die Untertanen dem staatlichen Zugriff auf Eigentum und Freiheit ausgesetzt waren.
 
Auch die sozialen Unterschiede und der Aufbau der Gesellschaft waren »ein Geschenk des Nils«, weil sie sich aus der Produktion und Verwaltung der Bodenerträge ergaben. Die ägyptische Gesellschaft kannte keine geburtsbedingten Schichtungen in Klassen (»Adel« und »Volk« oder »Freie« und »Sklaven«), Kasten oder Rassen, sondern nur die bildungsbedingte Unterscheidung in Produzenten und Verwalter oder (da »verwalten« gleichbedeutend war mit »schreiben«) der Schrift Unkundige und Schriftkundige. Beides aber, das Produzieren wie das Verwalten, galt als »Arbeit«. Rang und Stand eines Ägypters bemaßen sich nach der Bedeutung seines Amtes und damit seiner Arbeit. Auch die Götter arbeiteten; sie waren unermüdlich am Werk, um den kosmischen Prozess in Gang zu halten, und der Schöpfergott hatte nie einen Ruhetag gefunden, um sein Werk zu beenden, sondern »mühte sich ab mit der Arbeit«, wie es in den Hymnen heißt, indem er die Erde als Sonne umkreiste. Es gab keine nur der Muße lebende Oberschicht wie in Griechenland, die ihren Lebensinhalt in Jagd, Sport, Krieg und den schönen Künsten erblickte. Alle rühmten sich ihrer Arbeit, auch die Beamten und Priester, denn nur aus ihrer Arbeit erwuchs ihnen ihre Bedeutung. Zwar gab es auch eine Mußekultur, aber sie stand als Ausgleich und Freizeitbeschäftigung neben der Arbeit. Auch ihrer rühmten sich die Beamten, denn sie war wie überall auf der Welt der Elite vorbehalten, und zu dieser wollte jeder Ägypter gehören.
 
Ein auf Verteilung und Versorgung beruhendes Wirtschaftssystem prägt die Mentalität, indem es die Werte der Zusammenarbeit über die des Wettbewerbs stellt. Insofern wirkt sich die »Nilbedingtheit« der ägyptischen Kultur bis in moralische Grundeinstellungen hinein aus. Anders als in Griechenland stehen Wettkampf und Wettbewerb (das »agonale« Prinzip) hier vollkommen im Hintergrund. Das oberste Prinzip ist »vertikale Solidarität«, die den einzelnen auf die Tugenden der Mitmenschlichkeit verpflichtet und dabei seinen Blick nach unten und nach oben richtet. Der Mensch soll nach unten wohltätig, hilfreich und milde sein und nach oben loyal, dankbar und gehorsam. Er soll sich einfügen und unterordnen, aber auch verantwortungsvoll und weitblickend sein. Die Idee des Totengerichts legt jeden einzelnen auf seine individuelle Verantwortung fest, und die »Lehre des Herzens« betont seine selbstbestimmte Persönlichkeit. Dieser Lehre zufolge ist das Herz wie ein Gott im Menschen, der ihn »auf den rechten Weg des Handelns leitet«, wie es in einem Text der 18. Dynastie heißt. Die Ethik der Einfügung und Kooperation führt also nicht zur baustein- oder ameisenartigen Auslöschung von Individualität; im Gegenteil kultiviert sie den inneren Menschen und seine Tugenden der Selbstzurücknahme und Selbstkontrolle. Bis hierhin lassen sich die Linien ausziehen, die sich aus den Prinzipien einer auf Verteilung und Versorgung basierenden Staats- und Wirtschaftsorganisation und damit aus der Ausnutzung der Nilüberschwemmung ergeben. Verteilung und Versorgung erfordern andere Tugenden und Gerechtigkeitskonzepte als Markt und Wettbewerb. Nicht Wettkampf und Durchsetzungsvermögen, sondern Überblick, Rücksichtnahme und Selbstlosigkeit sind hier gefragt.
 
Wenn wir Herodots Formel vom Geschenk des Nils soweit gefolgt sind, legt sich die Frage nahe, welche Rolle der Nil in Religion und Vorstellungswelt der Ägypter spielte. Gehörte er zu den großen Göttern? Für die Ägypter war der Nil der »Fluss« schlechthin und wie das Grundwasser eine Erscheinungsform des Urozeans, auf dem die Erde schwimmt. Der Nil entspringt in der Unterwelt. Von dort kommt er nach Ägypten, während er die anderen Länder als »Nil am Himmel« in Form des Regens bewässert. Der Nil ist insbesondere mit Osiris, dem Gott der Unterwelt und der Fruchtbarkeit, verbunden, aber auch mit Isis in ihrer Erscheinungsform als Sothis (der Stern Sirius), der Göttin des Jahres, deren Frühaufgang nach siebzig Tagen Abwesenheit zugleich den Neujahrstag und den Beginn der Nilüberschwemmung markiert. Er erscheint aber auch als selbstständiger Gott in mannweiblicher Gestalt, die seine lebenspendende Fruchtbarkeit ausdrücken soll. Für die Ägypter war der Nil ein Geheimnis. Sie suchten nicht nach Gründen für sein jährliches An- und Abschwellen, sondern nach Möglichkeiten, ihn gnädig zu stimmen und die Folgen seiner Launen durch kluges Wirtschaften auszugleichen.
 
Prof. Dr. Jan Assmann

Universal-Lexikon. 2012.

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